In seinem neuen Buch „SPEED – Das einzige wahrhaft fortschrittliche Vergnügen“ widmet sich Mat Oxley der Frühzeit des Motorradrennsports, als sich mutige Männer auf klapprigen Zweirädern mit experimentellen Motorkonstruktionen aufmachten, um in ein neues Zeitalter vorzustoßen. Einer dieser Männer war der Brite Eric Fernihough, der Ernst Henne und BMW in den 1930er Jahren mit einer selbstgebauten Maschine den absoluten Geschwindigkeitsweltrekord für Motorräder entriss.
Wer war dieser britische Privatfahrer, der mit Maschinen aus seiner eigenen Werkstatt am Rande Londons den schon damals renommierten deutschen Hersteller herausforderte, welcher noch dazu die Unterstützung der nationalsozialistischen Regierung genoss? Unser exklusiver Auschnitt aus Mat Oxleys neuestem Buch „SPEED – Das einzige wahrhaft fortschrittliche Vergnügen“ bringt Ihnen den brillianten Ingenieur und Rennfahrer näher:
Eric Crudgington Fernihough war Stammgast in Brooklands und machte sich in den Goldenen Zwanzigern auf kleinen Excelsior- und New Imperial-Maschinen einen Namen im Nudeltopf von Surrey. 1927 nahm er an der Isle of Man TT teil, kehrte aber nach dem tödlichen Unfall seines Freundes Archie Birkin nie dorthin zurück. Er gewann 175ccm-Rennen bei der North West 200, fuhr Grand-Prix-Siege in Assen, Spa-Francorchamps und Montlhéry ein und wurde 1931 zum Europameister der 175ccm-Klasse gekrönt.
Einige Jahre später wollte Fernihoughs scharfer, wissbegieriger Verstand nicht länger immer nur so schnell wie möglich im Kreis fahren und wandte sich der absoluten Höchstgeschwindigkeit auf gerader Strecke zu. Fernihough hängte sich mit ganzem Herzen rein, um der schnellste Motorradfahrer der Welt zu werden.
Die Rekordversuche dieses tapferen Briten über die nächsten paar Jahre standen auf wackeligen Beinen und waren Welten von Hennes ausgefeiltem Programm unter der Ägide der Nazis entfernt. Während BMW scheinbar aus unendlichen Ressourcen schöpfte, machte sich Fernihough auf eine sehr britische, sehr sparsame, sehr einfache Art auf die Rekordjagd. Er war bekannt für seine mittellosen Lebensverhältnisse. „Um Gottes Willen, schmeiß das nicht weg! Das ist mein bestes Stück Schnur. Das nutze ich schon seit Jahren.“
Wie viele andere Männer im frühen zwanzigsten Jahrhundert, verliebte sich Fernihough (ausgesprochen: Ferniho) als Kind Hals über Kopf in den Verbrennungsmotor.
„Vor einem Vierteljahrhundert stöberte ein sehr kleiner Junge im Papierkorb der Familie, wo er einen Katalog mit Motorrädern und dem entsprechenden Zubehör fand“, schrieb er 1936. „Er behielt ihn, studierte ihn und lernte die Bauteile der Maschinen, die er sah, zu benennen. Er mochte ihn lieber als jedes Märchenbuch, denn er war der Ausgangspunkt eines tief verwurzelten Interesses für Motorräder, welches sein Leben erfüllen sollte.“
„Jahre danach schlich er sich immer wieder von der Internatsschule und marschierte kilometerweit an eine befahrene Straße, wo er sich für eine knappe halbe Stunde hinsetzen konnte und verschiedene Fabrikate sehen konnte und wie diese einen Berg hinauf fuhren und er konnte ihre Leistungen vergleichen. Ein Militärflugplatz war ein anderes Ziel, an dem Verbrennungsmotoren zu sehen waren. Oft war er erst zu spät zurück zum Appell, aber das schien für jemanden wie ihn, der von Motorrädern besessen war, nicht besonders wichtig. Als er einmal einen Arrest absitzen musste, waren seine Gedanken frei, um weit in die Zukunft zu schweifen, wenn er selbst eine Maschine besitzen würde, diese verbessern würde und, wenn die Götter ihm gnädig sind, Rennen mit ihr gewinnen würde. Dieser kleine Junge war ich…“
Der große, dünne und kurzsichtige Fernihough kam aus einer Familie der Mittelschicht, die ihn in sehr jungem Alter auf die Internatsschule schickte, so wie es damals in Großbritannien üblich war. 1923 ging er zum Magdalene College an der Universität von Cambridge, wo er einen Abschluss in Chemie und Maschinenbau erwarb oder im Brauen von Treibstoff und der Herstellung von Motorrädern, wie er sein Studium lieber beschrieb. Wenn er nicht seine Motorradkleidung trug, dann verbrachte er einen Großteil seines Lebens im blauen Cambridge-Pullover mit Rollkragen, Knickerbocker und Mütze.
Sein Abschluss in Chemie und Maschinenbau machte ihn zum perfekten Mann, um Hennes Rekord anzugreifen. George Brough war so überzeugt davon, dass er der richtige Mann war, dass er ihm Ende des Jahres 1934 dabei half, zwei Brough Superior SS100 aufzubauen, indem er ihn großzügig mit neuen und nicht ganz so neuen Teilen aus dem Brough-Werk in Nottingham ausstattete. Ein Großteil der Karriere von Fernihough basierte auf gutmütiger Unterstützung und mühevollem Einsatz in seiner Werkstatt, die sich neben seinem Haus auf der Brooklands Road, nur wenige Meter vom Haupteingang der Rennstrecke entfernt, befand.
„Ferni war eine großartige Persönlichkeit, die wusste, dass ein Motor, den man mit schmutzigen Händen zusammengebaut hat, etwa 3 km/h oder so verliert“, sagte Woolly Worters, ebenfalls ein Brooklands-Star.
Charles Mortimer war auch ein regelmäßiger Besucher auf dem Grundstück in der Brooklands Road. Mortimer staunte über die Arbeitsweise seines Gastgebers und wie dieser das meiste aus den JAP-Motoren seiner Broughs herausholte.
„Ferni war ein guter Fahrer und ein brillanter Ingenieur und Tuner. Er nahm einen Zylinderkopf, Zylinder und Kolben, montierte sie auf das Kurbelgehäuse seiner 500ccm-Excelsior und fuhr das Motorrad einmal um Brooklands, um die Leistung über die gemessene halbe Meile zu prüfen“, schrieb Mortimer. „Als er die Daten, die er brauchte, erhalten hatte, ging er zurück in seine Werkstatt, nahm den Zylinderkopf wieder herunter, machte die nächsten Änderungen, die an der Reihe waren, bevor er den Motor wieder zusammensetzte und weiter testete. Dieses Prozedere wiederholte er bis er vollständig zufrieden war, dass er alles herausgeholt hat. Der Zylinderkopf wurde dann abgenommen, in ein Regal gelegt und das ganze Prozedere wiederholte sich mit einem weiteren Zylinderkopf. Schließlich wurden die beiden Zylinderköpfe auf ein JAP-Kurbelgehäuse geschraubt, wo sie einen sehr sauber laufenden 1000ccm-V2-Motor ergaben.“
„Ferni war von Natur aus ein sehr vorsichtiger Mann und seine Methoden zum Geldeinsparen waren manchmal schon albern. Er trug dieselben Klamotten, bis man einen Liter Castrol aus ihnen auswringen konnte. Und jeder Lappen zum Reinigen der Motoren wurde gewaschen, getrocknet und wiederverwendet. Seinem Helfer Francis Beart erlaubte er nicht die Lappen zu benutzen. Er musste Zeitungspapier verwenden. Und wenn Francis [der später Nortons frisierte, welche Rennen in Daytona und auf der Isle of Man gewannen] nach mehr Papier fragte, wurde ihm gesagt, dass er zu verschwenderisch sei und dass eine Zeitung pro Tag mehr als ausreichend sein sollte.“
„Er stellte äußerst hohe Anforderungen an sich selbst und an jeden, der mit ihm arbeitete. Er war nicht immer rücksichtsvoll oder taktvoll, zeitweise tendierte er dazu schwierig zu sein, ohne dass er die geringste Vorstellung davon hatte, wie schwierig er sein konnte.“
Fernihough war außerdem wahnsinnig abergläubisch. Es war die Folge eines bösen Sturzes während eines Rennens in Calais am 13. Juli 1933. Sein Rennsport-Aberglaube wurde von einem weiteren Unfall bei einem Rennwochenende bestätigt, welches an einem Freitag dem 13. begann. „Ich spürte in meinen Knochen, dass etwas Unheimliches passieren würde, wenn eine Veranstaltung an einem solchen Tag beginnt“, schrieb er. „Das Schicksal hatte über mich entschieden und dem Schicksal kann man nicht entkommen!“ Er wurde so abergläubisch, dass er Rekordversuche am 13. eines Monats ablehnte und auf die Front aller seiner Motorräder eine schwarze Katze malte, so dass Fernihough und seine Motorräder fortan als Scalded Cats bekannt waren.
Mit anderen Worten, Fernihough war ein bankrotter, eigenwilliger und besessener Tüftler. In den Goldenen Zwanzigern hatte er in Brooklands mit den Preisgeldern gutes Geld gemacht, aber seit dem Wall-Street-Crash gab es kaum noch etwas zu verdienen. Er musste deshalb jede Möglichkeit wahrnehmen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Er bot in seiner Werkstatt alle möglichen Dienstleistungen an. Vom Verkauf kompletter JAP-Motoren bis zum Nachschleifen von Zylindern und der Einpassung neuer Kolben für ein Pfund, zwei Schilling und ein Sixpencestück. „Senden Sie mir ihre Anfragen und ich werde mich persönlich um sie kümmern“, stand in seinen Anzeigen in der Motorradpresse. Er verkaufte außerdem Benzin aus einer Zapfsäule in seiner Einfahrt an vorbeifahrende Kraftfahrer. Sein Auto betrieb er gerade so mit den aufgefangenen Tropfen aus der Zapfpistole, wenn er diese nach jedem Verkauf in einen Kanister zurücksteckte.
Im April 1935 war seine erste, nicht aufgeladene Brough fertig. Das Motorrad hatte die leistungsstarken Speedway-Zylinderköpfe von JAP, je einen Vergaser und einen Lucas Renn-Zündmagnet für jeden Zylinder und Kegelradantrieb für einen genaueren Zündzeitpunkt. Typisch Fernihough, war das Motorrad größtenteils aus übriggebliebenen Teilen aufgebaut. Der Rahmen war aus dem Jahr 1927, der hintere Zylinder kam aus seiner Excelsior 500, der vordere Zylinder aus der Grindlay-Peerless 500 eines Freundes und das Kurbelgehäuse war ursprünglich einmal entsorgt worden, weil es gerissen war. Aber es gab ja nichts, das man nicht mit ein paar Schweißnähten reparieren konnte.
Bei seinem ersten Lauf auf der Brooklandsbahn brach er den Rundenrekord mit stehendem Start. Drei Monate später brach er den Streckenrekord mit fliegendem Start. Und im September besiegte er alle Konkurrenten – ob zwei oder vier Räder – bei den Rekordfahrten in Brighton. Fernihoughs bekanntestes Opfer an diesem Tag war John Cobb in seinem 450 PS, 23 Liter Napier Railton. Während Cobb allerdings einen Scheck über 100 Pfund bekam, fuhr Fernihough mit 30 Pfund nach Hause. Bei der Olympia-Motorradschau wurde seine Maschine auf dem Stand von Brough Superior ausgestellt: Das schnellste nicht aufgeladene Motorrad der Welt.
Doch Fernihough wusste, dass er noch besser sein könnte, wenn er einen Kompressor in die Hände bekommen würde. Aber wie sollte er an solch ein teures Bauteil kommen? Mit noch mehr Unterstützung natürlich. Der Autorennfahrer Henry Laird gab Fernihough einen Zoller-Kompressor, der mit etwas Tüftelei an die zweite Brough gebaut wurde, ebenfalls ein 1927er Rahmen mit veralteter Bottom-Link-Federung nach Harley-Davidson-Vorbild. Die neue Maschine debütierte im Sommer 1936 in Brooklands.
Wie schon Wright und Temple zuvor, so hatte auch Fernihough seine lieben Probleme damit, den aufgeladenen JAP-Motor richtig zum Laufen zu bringen. Die beiden Zylinder aufeinander abzustimmen war sehr knifflig, denn einer lief meist zu mager, der andere zu fett, was zum Überhitzen und zu Rissen oder zu Leistungsmangel führte. Wie gewohnt musste er durch Ausprobieren den richtigen Weg finden, obwohl er es sich diesmal nicht so einfach machen und jeden Zylinder einzeln testen konnte. Nach hunderten Stunden in seiner Werkstatt und auf dem Brooklands-Oval lief der Motor endlich rund. Er verwendete verschiedene Nockenwellen, verschiedene Zündzeitpunkte und verschiedene Kompressionsverhältnisse auf jedem der beiden Zylinder. Trotzdem hielt die aufgeladene Brough beim ersten Versuch noch eine böse Überraschung parat.
Wenn das Gas bei einem aufgeladenen Motor geschlossen wird, ist der Vortrieb nicht sofort unterbrochen, denn in der Leitung zwischen Gebläse und Motor befindet sich noch Luft und Treibstoff. „Bei dieser Gelegenheit musste Ferni schnell denken, um eine Alternative zum Zusammenfalten des Zaunes zwischen dem Byfleet Banking und dem Vickers-Schuppen zu finden“, schrieb Motor Cycling. „Er dachte schnell und riss mit einer Hand die Leitungen der Zündkerze ab, während er mit der anderen lenkte, was keinesfalls ein so erholsamer Zeitvertreib war, wie Butterblumen auf einer Wiese zu pflücken.“
Als nächstes kehrte Fernihough nach Brighton zurück, wo auch 1936 wieder eine Veranstaltung mit Geschwindigkeitsversuchen stattfand. Er erreichte eine Endgeschwindigkeit von 255 km/h, so schnell wie noch kein anderes Motorrad zuvor in Großbritannien.
„Er ging ab wie ein Blitz und, mit seinem langen Körper gut verstaut, rauschten Mann und Maschine wie eine Kugel in die Dunkelheit. Das Getöse des großen Zweizylinders wurde von gelegentlichen Fehlzündungen unterstrichen“, schrieb ein Beobachter. „Das sind gute Vorzeichen für seinen anstehenden Angriff auf den Geschwindigkeitsweltrekord für Motorräder.“
Für Fernihough war die Zeit gekommen, um den Rekord aus Deutschenland zurückzuholen. Aber wo? Die Auto Cycle Union, der britische Dachverband, berichtete ihm von einer Veranstaltung in Deutschland, wo er zur Teilnahme berechtigt war. Es war die Reichsrekordwoche, bei der Henne seine 500er-Rekordmaschine das erste Mal ausführte.
Wie reagierten die Deutschen auf die überraschende Teilnahme von Eric Fernihough bei der Rekordwoche? Wie verliefen die Rekordversuche und welche Geschwindigkeiten konnten Ernst Henne und sein britischer Herausforderer erzielen?
Das und noch vieles mehr erfahren Sie in „SPEED – Das einzige wahrhaft fortschrittliche Vergnügen“.
Titel: | SPEED – Das einzige wahrhaft fortschrittliche Vergnügen |
Herausgeber: | Motorrennsport-Archiv Jordan |
Autor: | Mat Oxley (deutsche Fassung von Andy Jordan) |
Inhalt: | 240 Seiten inkl. Bildteile mit z.T. großformatigen Bildern |
Preis: | 24,90 € |
ISBN: | 978-3-945481-83-7 |